Im Februar 1977 war die Frage „Wer will ich sein?“ schnell beantwortet: Ich schlüpfte, nachdem ich monatelang meiner Rolle entgegenfieberte, in mein lang ersehntes Indianerinnen-Kostüm. Was ich darstellen wollte, hatte ich lange genug geübt: Ich war Nscho-Tschi, Winnetous Schwester. Wie Millionen anderer Kinder in den Siebzigern hatte ich mich sehr ernsthaft in Pierre Briece verliebt und so entstand meine Traumrolle, die ich pünktlich zum Faschingsumzug in unserem 200-Seelendorf zur Aufführung brachte. Es war ein voller Erfolg. Platz da graues Nieselwetter, hier kommt die bunte Karawane der guten Laune! Begleitet von einem Akkordeon-Spieler marschierten wir einmal ums Dorf herum. Eltern und Großeltern winkten aus ihren Gärten heraus und mein Herz pochte laut wie die Trommeln vor meinem Tipi.
Hai! Indianerin mit Biss Besonders stolz machte mich meine Kette mit Haifischzähnen. Auch wenn diese nur billige Plastikimitate waren, brachten sie doch meinen Kriegerinnen-Mut ganz gut rüber. Genau hier lag aber der Hund begraben: Ich galt als kränkliches, ängstliches Kind und auch die Tatsache, dass sich meine älteren Schwestern im Fall der Fälle schützend vor mich stellten, vermochte meine eigene Unsicherheit nicht zu schmälern. Der gesunde Mut musste aus mir selbst kommen, das spüre ich wohl selbst schon. Ich glaube, dass mein Großvater das auch sehr früh erkannte und alles unternahm, mir zu dieser Kraft zu verhelfen.
Wundenheiler und Wundermacher
Mein Opa war ein weiser und strenger Indianerhäuptling, ein gewitzter Geschichtenerzähler und ein Schauspieler, der mit seinen Darbietungen für beste Unterhaltung im Familienkreis sorgte. Als Enkelin, die ihn singend, spielend und fabulierend erlebte, spürte ich nichts von der Tragik seines eigenes Schicksals. Im Gegenteil: In seinen Märchen waren wir Drachentöter und Bärenbändiger, Könige und Kaiser, Götter und Heldinnen. Wir waren schlau und ausdauernd, reich und gütig. Egal was passierte, mein Opa, davon war ich überzeugt, konnte nicht nur Wunden heilen, sondern Wunder wahr machen.
Wie der liebe Gott aus der Küche meiner Oma flog
Die Selbstinszenierungen meines Opas als lieber Gott liefen in der Regel so ab: Nach dem Sonntagsgottesdienst – er war Mesner, also eine Art Personal Assistant des Priesters – kehrte er hoch inspiriert heim. Er verschwand kurz im Badezimmer und kam verwandelt wieder heraus. Statt Hemd, Anzug und ordentlicher Frisur erschien er jetzt mit zerzausten Haaren und einem großen weißen Handtuch, das wie ein Talar über seinem Rippstrick-Unterhemd drapiert war. Mit lauten, pseudolateinischen Gesängen zog er in die Küche ein und verwandelte die gute Stube unter dramatischen Segensgesten in seine Bühne. Meine Schwestern und ich jubelten und bekamen dafür neue Rollen zugewiesen: Wir hießen jetzt nicht mehr Andrea, Birgit und Claudia, sondern Heilige Agnes, Heilige Elisabeth und Heilige Cäcilia. Tanzend sprangen wir um den selbsternannten lieben Gott herum und trieben es so bunt, bis sich meine Oma mit einem Küchentuch bewaffnete und uns schimpfend hinausjagte. Unter lautem Protest zog die wilde Himmelsschar weiter und ließ sich schließlich auf dem Wohnzimmersofa meiner Großeltern nieder.
Alles, was ich brauchte Rückblickend erheitert es mich immer noch, wie frei und kreativ meine Opa mit den katholischen Vorlagen umging, um immer wildere Heiligenlegenden zu konstruieren. Für mein ängstliches Wesen bastelte er eine besonders tapfere Heldinnenrolle zusammen. Er erzählte mir nicht nur davon, er machte mich glauben, dass ich diese heilige Heldin tatsächlich sein kann, wenn ich nur will. Eine, die sich weder vor den strengen Strafen des Königs fürchtet, noch vor den Monstern in der Höhle, die sie zu durchschreiten hat. Eine, die Brot und Kuchen backt, um die Armen zu versorgen. Eine, die kleine Kinder aus den Klauen eines Adlers rettet oder die Wunden eines verletzten Pferdes heilt. Und ich glaubte ihm. Ich glaubte meinem Opa, der ja nun der liebe Gott war. Ich war fünf Jahre alt und hatte noch keinen Fuß in die Schule des logischen Denkens gesetzt.
Schluss mit dem Unfug Dem Unterschied zwischen Fantasie und Wirklichkeit sollte ich erst ein Jahr später begegnen. Bei den Kennenlern-Runden in der ersten Klasse gab ich natürlich nicht populäre Berufswünsche wie Tierärztin oder Lehrerin an. Nein, für mich stand fest: Ich will Heilige werden! Zum ersten Mal von 27 Kindern ausgelacht zu werden, brach nicht nur als bittere Enttäuschung über mich herein, sondern machte mich rasend vor Wut. Wütend auf meinen Opa, der mir die Heiligen-Karriere offenbar nur vorgegaukelt hatte.
Wie gut, dass ich nur wenige Monate später Winnetou im Sonntagsfernsehen kennenlernte, so dass ich kurzerhand auf Indianerin umsattelte. Immerhin war ich durch meine kurze, aber intensive Heiligenlaufbahn bestens qualifiziert, Cowboy-Geiseln zu befreien, Ponys zu pflegen und mit der Friedenspfeife ums Lagerfeuer zu tanzen.
Märchenmantra Im Februar 2011 war es genauso trüb und grau wie vor 34 Jahren. Mir gingen die Bilder unseres Kinderkarnevals durch den Kopf. Ich erinnerte mich an diese peinliche Situation in der ersten Klasse, wo ich angab, Heilige werden zu wollen und ich es mir beinahe sowohl mit meinen neuen Freunden als auch mit dem Religionslehrer verscherzte.
Und jetzt? Wo war ich jetzt, nach all den erfolgreichen Jahren Schulbildung, Studium, Auslandseinsätzen und Karriereleiter? Was war jetzt noch übrig von meinem auf Logik und Leistung optimierten Lebensentwurf? Keiner meiner Chefs saß an meinem Krankenbett, kein Computerprogramm der Welt konnte mir eine Genesung ausrechnen und in keiner der Sprachen, die ich beherrschte, fand ich ein Wort der Hoffnung. Da fiel mir die Märchenformel meine Opas wieder ein „Schau nicht links, schau nicht rechts, schau immer grade zu, dann hast du deine Ruh“. Es wurde zu meinem Mantra, das ich täglich in mich hineinmurmelte. Mein lieber Opa, zur Indianer-Squaw habe ich es nicht gebracht. Auch die Heiligen-Laufbahn habe ich nicht eingeschlagen. Aber eine (Selbst)Heilende bin ich geworden. Und das habe ich auch dir zu verdanken. Danke für deine überlebensnotwendigen Lektionen in Märchenpower und Fantasieglauben. Ich weiß jetzt wer ich bin und ich weiß, dass ich immer die sein kann, die ich sein will. Egal, ob ich eine Haifischzahnkette trage oder nicht. Danke, dass du an mich geglaubt hast. Du wirst das sicher lesen, du bist doch schließlich der liebe Gott.
Mein Opa! Der letzte Satz hat mich jetzt echt zum heulen gebracht :D Würdest du ein Buch schreiben, ich würde es ohne ablegen verschlingen. Ehrlich, ich liebe deine anekdotische Art einfach Alles zu beschreiben, was in dir jemals vorging. Und diesen Opa, den würde ich auch feiern, aber wie! :) LG Solli
Oh wow, (für mich) noch so früh am morgen und schon die erste Gänsehaut während deiner Zeilen! Ich musste beim Lesen auch an meinen Opa denken. Wie ich die Welt mit ihm auf dem Bauernhof, den er bewirtschaftete, entdeckt habe und die ganzen Geheimnisse, die er mir dort zeigte. Wie auch du schreibst, konnte ich mit und bei ihm alles sein, denn in seiner Nähe war ich stark und konnte traurig sein und er hatte immer Zeit für alle meine vielen Fragen... Danke für deine Zeilen, die mich gerade mit einem Lächeln an viele tolle Momente erinnerten. Dein lieber Opa wird sich so sehr über deine warme Worte freuen!
Du, sorry für die Ausdrucksweise, GEILE Geschichtenschreiberin, Frau Punkte ! Es sprudelt beim Lesen und rührt.
LIebe fraupunkte,
ach, du glaubst gar nicht, wie sehr mich deine Zeilen berührt haben. Vor allem weil das genau den Opa beschreibt, den ich immer haben wollte, aber nie hatte und das, obwohl er zumindest körperlich noch anwesend war. Du beschreibst die Beziehung zu deinem Opa und das, was er für dich und auch dein Denken und weiteres Leben bedeutet hat, so detailreich und liebevoll, dass ich ein ganz klares Bild vor mir hatte und direkt Teil dieser geborgenen Momente war. Was sich schon beim Lesen so schön anfühlt, muss in der Realität unübertreffbar gewesen sein! Was mich persönlich noch sehr angesprochen hat, sind deine Zeilen, in denen du dich fragst, was all die Logik, Karriere und das Streben dir…
Liebe Frau P, wer mit so einem tollen und lustigen Opa groß wird, braucht nichts zu fürchten, meint man. Aber wie schön, dass Du Dich an sein kraftvolles Motto erinnert hast. Dein Text liest sich nicht sehr berührend und kraftvoll, er ist auch wundervoll geschrieben - ich muss an "Der Junge muss an die frische Luft" denken. Danke für Deine Erinnerungen - und: Alaaaaf! R.